Europäische Kommission will Experimente am Menschen erleichtern
Der EU-Verordnungsentwurf zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG birgt erheblichen Zündstoff. Erklärtermaßen soll mit ihm die Durchführung klinischer Studien am Menschen vereinfacht werden – zugunsten der medizinischen For- schung und Industrie. Es geht um die Beschleunigung von Zulassungsverfahren. Die Sicherheit von Studienteilnehmern und Patienten bleibt bei dieser, so offenkundig von Wirt- schaftsinteressen durchdrungenen Lobbypolitik zwangsläu- fig auf der Strecke. Besonders erschreckend ist, dass interna- tional anerkannte Grundsätze zu medizinischen Tests am Menschen, wie etwa die vom Weltärztebund gefasste Dekla- ration von Helsinki, bedenkenlos ausgehöhlt werden. Sind Arzneimittelhersteller bislang dazu verpflichtet, solche klini- schen Prüfungen zuvor von einer unabhängigen Ethikkom- mission, welche den Schutz der Patienten sicherstellen soll, bewilligen zu lassen, so ist in dem EU-Entwurf davon keine Rede mehr.
EU-Neuregelung von Arznei-Tests am Menschen gefährdet Sicherheit und Interessen von Patienten
Die Dreistigkeit der Argumentation, mit der die EU-Bürokra- ten ihren Verordnungsvorschlag zur Vereinheitlichung der Prüfverfahren begründen, ist wirklich enorm. Herausfor- dernd ist auch die dabei von Brüssel angemahnte Eile, mit der die nationalen Parlamente angehalten werden, die wäh- rend der Urlaubszeit auf den Weg gebrachte Vorlage nun zügig durchzuwinken. Dass die hierin vorgebrachten Forde- rungen, welche in der Konsequenz eine inakzeptable Absen- kung der Sicherheit von Probanden und Patienten bedeu- ten, etwa „bloß“ auf handwerkliche Fehler zurückzuführen wären, muss als ausgeschlossen gelten. Tatsächlich strotzt das Papier vor skandalösen Unterstellungen, abenteuerli- chen Verdrehungen, verantwortungslosen Fehleinschätzun- gen und haltlosen Ableitungen. Im willfährigen Bestreben, die Attraktivität des viel beschworenen „Forschungsstandor- tes Europa“ für die Pharmaindustrie zu erhalten und auszu- bauen, schreckt der Entwurf der EU-Kommission selbst vor dem Aushebeln elementarer Grundrechte wie dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit oder dem Selbstbestim- mungsrecht über die eigene Person nicht zurück.
Während sich in Deutschland der Verband forschender Arz- neimittelunternehmen (VfA) mit dem Vorstoß durchaus zufrieden zeigt und von dem Vorwurf, die Studienauflagen würden zugunsten der Medizinindustrie aufgeweicht, nichts wissen will, kommt heftige Kritik sowohl seitens des Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen (AkEK) wie auch von verschiedenen Ärzteverbänden, so auch dem Mar- burger Bund. In seiner Stellungnahme weist der AkEK den Vorschlag grundsätzlich zurück, da dieser „aus falsch ver- standenen wirtschaftlichen Erwägungen für wesentliche Teile des Genehmigungsverfahrens Neuregelungen vor- schlägt, die mit international anerkannten ethischen Stan- dards brechen und durch die die Sicherheit der Studienteil- nehmer in nicht vertretbarer Weise gefährdet wird.“
Sozialethik vs. Individualethik
Das geltende Arzneimittelrecht in Deutschland bezieht sich bei der Bewertung von mit klinischen Tests verbundenen Risiken auf die Abwägung möglicher Nachteile für die ein- zelne Person. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu anderen Schwerpunktländern der Pharmaforschung: In den USA oder in Großbritannien orientiert man sich bei der Durchführung von medizinischen Studien am Menschen weit stärker an einer sozialethischen Sichtweise, nach wel- cher die Interessen des einzelnen Patienten gegenüber dem potentiellen Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes ggf. zurückzustehen hätten. Genau dieser Linie folgt auch der Entwurf der EU-Kommission, indem das vorhersehbare Risi- koausmaß des einzelnen Studienteilnehmers künftig abhängig gemacht werden soll von einem zu erwartenden Vorteil für die öffentliche Gesundheit. Im Entwurf heißt es:
„Das Risiko des Einzelnen darf nicht unvertretbar höher eingeschätzt werden als das normale Behandlungsrisiko, das ohne Studienteilnahme bestünde.“ Konkret beinhaltet diese Formulierung, dass mögliche Schäden für einzelne Probanden als „vertretbar“ gelten könnten, wenn nur die Aussicht auf das Gemeinwohl als hoch genug angesehen wird. Es liegt auf der Hand, welche Gefahren eine solche Regelung mit sich brächte. Gleich mehrfach belegt die jün- gere Geschichte, dass eine Forschung, die sich der öffentli- chen Kontrolle entzieht, zu schlimmsten Auswüchsen füh- ren kann – gerade vor dem Argument des vermeintlichen medizinischen Fortschritts.
Als unmittelbare Folge einer Aufhebung der heute in Deutschland geltenden Regelung wird vor allem eine deut- liche Zunahme von Placebo-kontrollierten Studien erwar- tet, also Untersuchungen, in denen die Wirksamkeit von Arzneimitteln mit einem Scheinmedikament verglichen wird. Daran knüpft sich bei vielen Medizinern die Furcht, dass Patienten innerhalb der Kontrollgruppe eine wirksame Behandlung vorenthalten werde, trotzdem therapeutische Alternativen zum getesteten Präparat vorhanden sind.
Wer entscheidet?
In der wegweisenden Erklärung von Helsinki heißt es aus- drücklich: „Das Studienprotokoll ist vor Studienbeginn zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und Zustimmung einer Forschungsethik-Kommission vorzulegen.“ Eine Voraussetzung des Zustandekommens einer klinischen Stu
die ist demnach die zustimmende Bewertung einer unab- hängigen Ethikkommission. Seit 1996 ist diese Bedingung auch Bestandteil des deutschen Arzneimittelgesetzes. Der jetzige Verordnungsvorschlag aus Brüssel macht den Ver- such, diese zwingende Vorgabe zu beseitigen. Zum einen ist bemerkenswert, dass die Funktion dieses wichtigen Gremi- ums vollkommen ausgespart wird. Zum anderen würde mit der Umsetzung des Entwurfs der Handlungsspielraum der Ethikkommissionen dermaßen stark eingeschränkt, dass deren originäre Aufgabe praktisch verunmöglicht wird. Bereits deren obligatorische Unabhängigkeit wird dadurch konterkariert, dass künftig eine gemeinsame Bewertung mit Vertretern der Arzneimittelbehörde abgegeben werden soll. Auffälligerweise ist in dem Entwurf unerwähnt, dass ein etwaiges „Nein“ der Ethikkommission die Ablehnung des Antrags zur Folge hätte.
Auf Wunsch der EU-Handlanger soll sich das Genehmigungs- verfahren zudem auf lediglich einen berichterstattenden Mitgliedsstaat beschränken, ohne dass Einwände anderer Mitgliedsstaaten notwendigerweise Berücksichtigung finden müssen. Damit liegt der Verdacht nahe, dass Pharmakonzer- nen ganz bewusst die Option eröffnet werden soll, gezielt solche nationalen Behörden auszusuchen, die vielleicht weniger kritisch sind, um Staaten mit einer gründlicheren Prüfung und mit womöglich mehr Erfahrung zu umgehen.
Klientelpolitik im Sinne von Profitinteressen
Neben dem faktischen Ausschluss unabhängiger Ethikkom- missionen bei der Bewertung eines klinischen Prüfverfah- rens, fordern die EU-Bürokraten in ihrem Verordnungsvor- schlag auch die unverhältnismäßige Verkürzung von Bescheidungsfristen bei der Genehmigung der Studien. Ganz nach Maßgabe ökonomischer Sachzwänge und über- dies mittels unbelegter Aussagen plädiert der Entwurf für die drastische Herabsetzung von Bearbeitungszeiten, ohne dabei das vorrangige Schutzbedürfnis der Studienteilneh- mer und die daraus abgeleiteten zwingenden Erfordernisse bei der Bewertung des Antrags zu berücksichtigen. Diese Einseitigkeit nährt die
Annahme, dass die Europäische Kommission das Wohl der Pharmaindustrie für wichtiger hält als die Sicherheit von Menschen. Indes ist keines- wegs nachvollziehbar, inwiefern der Unterbie- tungswettlauf bei der Verkürzung von Fristen auf nur mehr wenige Tage überhaupt einen zeitlichen Gewinn darstellen soll, angesichts der tatsächlichen Dauer des Prüfverfahrens, ange- fangen von der Planung, über die Durchfüh- rung, bis hin zur Auswertung der Studie. Es liegt also nahe, im Bemühen um die absurde Verkür- zung der Fristen eher einen weiteren Baustein zur Beseitigung der unliebsamen Ethikkommis- sionen zu sehen.
Außer Kraft gesetzt würden nach der Vorstellung der EU- Kommission auch die in Deutschland geltenden Schutzvor- schriften für Nicht-Einwilligungsfähige und Minderjährige. Ein bindendes Einwilligungsverfahren für einsichtsfähige Minderjährige ist laut Entwurf nicht mehr vorgesehen. Nach Einschätzung des AkEK sieht die Vorlage aus Brüssel auch die Möglichkeit vor, einwilligungsfähige volljährige Personen „ohne ihre Einwilligung und ohne vorherige Information […] in die klinische Prüfung einzubeziehen“.
Welch unterschiedlichen Handlungsspielraum spitzfindige Formulierungen eröffnen, zeigt sich in folgender Wortge- bung. Bislang gilt, dass minderjährige Patienten oder Patienten, die aufgrund ihres geistigen Zustandes vorüber- gehend oder dauerhaft nicht einlieferungsfähig sind, im Rahmen von Studien nur mit „minimalen Risiken und Belas- tungen“ konfrontiert werden dürfen. Die Verordnungsvor- lage macht daraus eine relative Formulierung: Für Betroffe- ne sollen die vorhersehbaren Risiken so „gering wie mög- lich“ sein. Nach Ansicht des AkEK birgt der Wegfall der Absolutgrenze die Gefahr, dass dadurch auch hohe Risiken akzeptabel werden könnten.
Vorschub für den Pharmakolonialismus?
Betrachtet man die empörenden Zugeständnisse des EU- Politbüros an die Pharmaindustrie gar vor dem Hintergrund des Abwanderns klinischer Studien in Schwellenländer, wird die menschenverachtende Stoßrichtung des Entwurfs noch deutlicher. In den letzten Jahren war eine erhebliche Zunahme von Medikamentenprüfungen in Indien, China und Brasilien zu verzeichnen. Vor allem diese Gründe machen diese Länder für die Arzneimittelhersteller attrak- tiv: die niedrigeren Hürden beim Einhalten von Schutzstan- dards, ein geringerer Versicherungsaufwand sowie die höhere „Bereitwilligkeit“ von Probanden, die – armutsbe- dingt – in der Teilnahme an diesen Arzneimittelprüfungen häufig die einzige Möglichkeit für eine medizinische Ver- sorgung sehen. Orientiert sich der EU-Entwurf im vermeint- lichen Erheischen von Wettbewerbsvorteilen an diesen Maßstäben globaler Abhängigkeit, droht nicht nur eine Vertiefung des Pharmakolonialismus sondern auch inner- halb Europas ein gefährlicher Dammbruch des Schutzni- veaus und Abbau ethischer Standards.
Menschenmaterial als Geschäftsbasis
Die Tatsache, dass der Verordnungsentwurf nach Beratung im Gesundheitsausschuss des Bundestages offenbar auf
wenig Befürworter stieß, sollte nicht über die Gefahr der gesetzlichen Umsetzung – per EU-Direktive – hinwegtäuschen. Das Ergebnis der vertraulichen Beratungen ist trotz der Brisanz ernüchternd: In einer fraktionsübergreifenden Initiative wolle man die Europaabgeordneten dazu bewegen, eine Änderung der Vorlage vorzunehmen.
Keine Illusionen sollte man sich über die Absichten der – bekanntlich nicht von der Bevölkerung gewählten – EU-Kom- mission machen. So wie mit dieser vor- geblichen Vereinheitlichung des Verfah- rens zur Durchführung von medizini- schen Tests in den Mitgliedsstaaten treibt
sie bereitwillig die Umgestaltung Europas nach den Kartell- interessen des Pharma-Investmentgeschäfts voran. Wer dabei an Zufall oder Verschwörung glaubt, dem sei die kri- tische Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der „Brüs- seler EU“ empfohlen (Buchtipp „Die Nazi-Wurzeln der ‚Brüsseler EU‘“, siehe Abbildung).